Erzählpredigt zur Jahreslosung 2019

Von Pfarrer Manfred Günther

Wie in jedem Jahr am Anfang soll die Jahreslosung Thema der Predigt sein. Es ist eine
Erzählpredigt zum Frieden, die uns vielleicht hilft, dem Frieden, von dem die Losung spricht, ein wenig näher zu kommen. In unserer Familie, und unserem kleinen Lebensbereich.

Hier ist die Jahreslosung für das Jahr des Herrn 2019:
Suche Frieden und jage ihm nach!
Psalm 34,15

Liebe Gemeinde!
Ich will von einer Frau erzählen. Von einer Mutter. Ich sage noch einmal: Ich will erzählen. Nicht berichten. Denn wir wissen nicht viel von ihr. In der Bibel wird sie an vielleicht 10 Stellen genannt. Nicht, weil sie so unbedeutend wäre – nein, sie steht im Schatten ihres Sohnes, und der hat überragende Bedeutung – für diese Welt, für unsere Zukunft, für dein und mein persönliches Leben … und auch für die Sache des Friedens.

Das ist ja oft so: Mütter treten hinter ihren Kindern zurück. Die Töchter geraten, finden ihren Platz im Leben, in der Gesellschaft. Die Söhne erreichen viel, gewinnen Ansehen und Einfluss. Wer fragt nach den Müttern?

Wer aber hat die Kinder lange Jahre geführt. Wer hat ihnen die Richtung gewiesen, wer hat sie erzogen? Wer hat ihnen viel, viel Zeit und Kraft geopfert? Wenn die Kinder Gutes von Bösem unterscheiden können – wer hat sie’s gelehrt? Wenn sie darauf verzichten können, das letzte Wort oder Recht zu behalten – wem haben sie’s abgesehen? Wenn sie ihre Mitmenschen lieben lernen, wenn sie sich selbst und die eigenen Interessen um anderer Willen vergessen können, wenn sie friedfertig, fähig zu Mitleid und Verzeihen werden – wessen Vorbild folgen sie dann? Und schließlich: Wenn sie an Gott glauben können, wenn sie auf seine Kraft zur Veränderung dieser Welt vertrauen, wenn sie Hoffnung auf eine Zukunft über den Tod hinaus bewegt – wer ging mit ihnen die ersten entscheidenden Schritte auf diesem Weg? War das nicht die Mutter, meist, in erster Linie – zuzeiten der Bibel und noch heute – sie: die Mutter. Sie betreut das Spiel der Kinder. Sie begleitet die ersten Erfahrungen der Kleinen. Ihre Mahnung bewahrt. Ihre Warnung behütet. Ihr Gebet eröffnet uns das Wissen von einer Macht über allen Menschen. Viel von dem, was wir sind, sind wir durch sie: Die Mutter.

Die eine, von der ich erzählen will, war kaum zwanzig, als sie ihren ersten Sohn bekam. Er war ihr verheißen, angekündigt mit Worten, die bei ihr gleichermaßen Freude wie Angst auslösten: Sei gegrüßt, du Begnadete. Der Herr ist mit dir. Du wirst einen Sohn gebären, der wird groß sein, ein König, dessen Herrschaft kein Ende hat … Nun war die Stunde der Geburt da. Der Ort, wohin sie Zufall oder Geschick für die Niederkunft verschlagen hatte, war alles andere, als die Geburtsstätte für Könige. Ein Stall für das Vieh. Ein zugiger Verschlag am Rande des kleinsten Städtchens in Juda. Und den mussten sie noch mit Rind und Esel teilen. Zweifel kamen ihr: Kommt so ein König auf die Welt? Und wenn – was für ein König soll das sein? Es war eine Geburt wie andere auch. Verbunden mit Schmerzen, mit Anstrengung und großer Erschöpfung hinterher. Ja, es war ein Sohn geworden, ein Knabe, der aussah wie andere Neugeborene auch, der schrie, der gestillt und gewiegt sein wollte. Was sollte sie als Bett nehmen … für den König? Da war nur ein Viehtrog, gerade hatte der Esel noch sein Futter daraus gefressen. Dahinein legte sie das Kind. Ein Bettchen für einen zukünftigen Herrscher? Aber was war das für eine Herrschaft, die er antreten sollte? Draußen hörte sie Gesang: Von Freude war da die Rede. Von „Heiland“ und immer wieder von „Friede“… Frieden auf Erden … Sie behielt alles in ihrem Gedächtnis, besonders dieses eine Wort, von dem in dieser Nacht so viel gesungen und gesprochen worden war: Frieden.

Und gehört das nicht immer zu den Gedanken der Mütter, wenn sie ein Kind geboren haben und es nun zum ersten Mal in ihrem Arm liegt: Es soll in friedvoller Zeit aufwachsen und groß werden können. Es soll Krieg und Gewalt nicht kennen lernen müssen. Sein Leben soll behütet sein vor Kriegswirren, vor Not, Hunger und Leid. – Frieden soll unser Kind haben, es soll selbst ein Friede sein und Friede soll von ihm ausgehen.

Jahre sind vergangen. Die Mutter, über die ich erzähle ist mit ihrem Mann nach Nazareth zurückgekehrt. Hier hat der Vater seine Werkstatt, seinen Beruf. Eines Tages – so denke ich mir – beobachtet die Mutter ihren Jungen beim Spiel. fünf oder sechs Jahre alt ist er vielleicht. Nachbarskinder sind da. Es wird getollt, geschrien und gelacht. Ein kleines Holzspielzeug geht entzwei – einer ist mit dem Stiefel darauf getreten. Der Vater hat es für seinen Jungen gemacht. Dem Kleinen schießen die Tränen in die Augen: Sein Spielzeug, von seinem Vater geschnitzt, für ihn … Und schon ballt er die Fäustchen und will sie gegen den anderen erheben, der das Spielzeug zertrat … Da ist die Mutter neben ihm. Sie hat alles mitangesehen. Sie ergreift seine Fäuste, öffnet sie, hebt ihn hinauf zu sich, herzt ihn und küsst ihn – den Kleinen, der sich langsam wieder beruhigt unter ihren freundlichen Worten: „Er hat es doch nicht gewollt. Papa wird dir ein neues machen. Es tut ihm auch sicher leid.“

Warum spricht sie so auf den Jungen ein? Warum lässt sie die Kinder nicht mit Fäusten austragen, was zwischen ihnen ist? Weil sie eine Mutter ist?! Weil sie Angst um ihren Kleinen hat, er könne zu Schaden kommen? Weil ihr Gewalt das falsche Mittel scheint? Weil da – ganz tief in ihrer Erinnerung – noch dieser Gesang nachklingt, diese Worte aus der Nacht vor sechs Jahren: … und Friede auf Erden unter den Menschen, an denen Gott Wohlgefallen hat? Ja, es ist vielleicht das: Es ist Gottes Wille, dass wir Frieden halten. Deshalb soll ihr Kind nicht die Hände erheben – nicht zum Schlagen, nicht zum Abwehren.
Erinnern wir uns an Szenen am Rande der Sandkästen: Unsere Kinder spielten. Manchmal miteinander – manchmal jeder für sich. Wenn einer dann in den Bereich des anderen kam, wenn er die Schaufel oder das Förmchen nahm, das nicht ihm gehörte – haben wir immer geschlichtet? Meinten wir manch¬mal nicht, raten zu müssen: Du musst dich wehren! Lass‘ dir nicht alles gefallen! Was werden die Kinder tun, wenn sie groß sind, wenn es um andere Dinge geht als eine Schaufel oder eine Sandform? Werden sie dann wissen, dass Friede Verzicht heißt, Verzicht auf Gewalt, auf das letzte Wort, auf den Einsatz der Stärke, die ich eigentlich hätte?

Hören wir weiter von der Mutter, über die ich heute spreche: Wieder sind vier Jahre vorüber. Der Knabe ist zehn. Immer noch ein Kind wie andere. Einmal marschiert eine römische Legion durch Nazareth. Die Uniformen leuchten in ihren Farben. Die Rüstungen und Schwerter blitzen in der Sonne. Die Augen des Jungen – als er es sieht – leuchten auch: Der geordnete Marsch, die kühnen Gesichter, die bunten Fahnen und Standarten … Die Mutter hat Mühe, den Knaben abzulenken. Er blickt gebannt. Er ist fasziniert. Vielleicht sagt sie dem Jungen: Die Schwerter der Männer sind dazu da, zu verletzen und zu töten. Sie sagt das wohl nicht gern, aber wahr ist es nun mal. Die Züge des Knaben trüben sich: Töten … davon hat er gehört, scharfer Stahl, wie ihn die Männer tragen, verletzt, auch das weiß er … Und das bringt er nun nicht mehr zusammen mit dem bunten fröhlichen Bild der Marschierenden … Nun folgt er der Mutter, die ihn wegzieht, fort von der Straße, auf der sie in den Krieg ziehen. Immer noch klingen in ihr die Worte – sie wird sie nie vergessen – Friede auf Erden … so ist es Gottes Wille!

Darf ich uns die Manöver ins Gedächtnis rufen, wie sie früher häufig waren? Die Tage der offenen Tür bei der Bundeswehr. Welche Faszination, welcher Bann für unsere Kinder, unsere Jugend – und für uns selbst oft auch? Mütter habe ich gesehen, auch die zogen ihre Kinder hinter sich her, aber dorthin wo in langer Reihe Panzer standen oder vorbeifuhren. Mütter habe ich gesehen, die ihre Kleinen – die Angst stand den Kindern im Gesicht – dazu brachten mit Fähnchen zu winken, als begrüße man gute Freunde. Es mag wohl auch Mütter gegeben haben, die ihren Kleinen vom vielfachen Tod erzählten, den die lachenden Männer dort vorbeifahren. Es gab vielleicht auch Mütter, die ihren Kindern die Angst ließen, die verständliche Angst vor Kriegsgerät, geeignet ganze Städte in Schutt und Asche zu legen. Solche aber standen nicht am Rande der Manöverstraßen. Was werden die Kinder tun, wenn sie groß sind. Werden sie nicht gelernt haben, den Wahnsinn von Tötungsmaschinen, von Panzern, Raketen, Drohnen und Neutronenwaffen als eine Wirklichkeit anzusehen, die in unsere Zeit gehört wie die Friedensbeteuerungen der Großmächte. Ich frage mich aber, ist es normal, Waffen anzuhäufen, die in der Lage sind, die Welt zu vernichten und diese Waffen auch noch unter fähnchenschwingendem Jubel der Bevölkerung vorstellen zu dürfen.

Die Mutter aus meiner Erzählung hat mit dazu geholfen, dass aus ihrem Sohn werden konnte, was ihm verheißen war: Ein König, ein Herrscher. Auch ihr Verdienst war es, wenn man ihn später den „Sanftmütigen“, den Friedefürsten nannte. Mütter prägen ihre Kinder. Mütter zeigen die Richtung. Mütter haben von daher große Verantwortung.
Gewiss, der große Sohn dieser Mutter, von der ich rede, starb gerade an seinem Verzicht auf Macht, an seinem Willen zum Frieden. Aber das spricht nicht gegen seine Sache und auch nicht gegen die Erziehung durch die Mutter: Wie anders soll denn Frieden werden, als dass einer auf den Streit verzichtet, den er gewinnen könnte, die Stärke, die ihn überlegen machen würde, die Ausübung der Macht, die den andern in die Knie zwänge? Er – der Sohn dieser Mutter – ist dafür am Kreuz gestorben. Die Mutter musste es mit ansehen. Ausgerechnet römische Soldaten nagelten ihn an das Holz. Ob diese Mutter angesichts des sterbenden Sohnes immer noch verstand, was die Worte über dem Geburtsgeschehen meinten: Friede auf Er-den … Ob ihr vielleicht dieser Gedanke ein Trost war: Er ist unser Frie¬de. Er starb für uns, damit wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt.

Wann wird dieser Friede auf Erden? Es wird an uns allen liegen, wie sehr wir ihn suchen und ihm nachjagen. Und an den Müttern liegt es ganz besonders, denn ihr Vorbild lehrt den zukünftigen Generationen, was das heißt: Friede. So war es wohl auch bei der Frau, von der ich erzählt habe, bei „Maria“, der Mutter des Herrn Jesus Christus.

AMEN