Predigt zur Jahreslosung 2015 von Manfred Günther

2014-11-29_banner_jl2015

 

 

Das ist die Jahreslosung für das Jahr des Herrn 2015:
Nehmt einander an,
wie Christus euch angenommen hat
zu Gottes Lob.
Röm. 15,7

Liebe Gemeinde!

So beginnt sie, die Losung für das kommende Jahr: „Nehmt einander an…“ Wenn wir ganz ehrlich sind, denken wir jetzt, dass hier doch eigentlich nicht allzuviel von uns verlangt wird. Und wir denken dabei an die vielen Menschen in unserer Nähe, die wir gern haben, die uns sympathisch sind: Unsere Ehegatten, die Kinder, die Enkel. Die guten Freunde, mit denen wir über alles sprechen können. Den Nachbarn, der immer da ist, wenn wir seine Hilfe brauchen. Den Kollegen, mit dem wir seit Jahren gut zusammenarbeiten. Auch unsere Vereinskameraden fallen uns ein, mit denen wir schon so manches Fest gefeiert, aber auch einige Durststrecken überstanden haben. Und jedem und jeder von uns kommen noch andere Menschen in den Sinn, mit denen wir gut können, denen wir vertrauen und die uns noch nie enttäuscht haben.

Nein, es ist nicht schwer, diese Menschen anzunehmen, sie gern zu haben, unsere Zeit mit ihnen zu teilen, ihnen beizustehen, wenn es ihnen schlecht geht, zuzuhören, wenn sie uns ihre Sorgen erzählen und ihnen Mut zu machen, wenn sie allein nicht weiter wissen.
Aber gehen wir der Losung für das kommende Jahr weiter entlang: „Nehmt einander an…, wie Christus euch angenommen hat…“ Wie unser Herr die Menschen angenommen hat und was für Menschen das waren, können wir in den Evangelien lesen: Mir fällt zuerst Zachäus ein, der kleine Zöllner, der auf den Baum steigt, um einen Blick auf Jesus zu erhaschen, als der mit seinen Jüngern vorbeizieht. Ein notorischer Betrüger ist er, der kleine Zöllner. Seit Jahren hat er den Menschen zu viel Geld abgenommen, wenn sie seine Zollstation passiert haben. Weiß Gott, kein sympathischer Mensch! Was ruft ihm Jesus zu?: „Zachäus, steig eilend herab; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren.“ – Ja, warum muss es denn ausgerechnet dieser Betrüger sein? Jesus sollte doch mehr auf seinen guten Ruf achten.
Dann fällt mir die Frau ein, die beim Ehebruch ertappt worden ist. Einige fromme Männer haben sie vor Jesus gezerrt, dass er ihr das Urteil spricht. Sie ist schuldig, das ist klar. Das Urteil wäre gewesen: Sie muss gesteinigt werden. Aber Jesus tritt für die Frau ein. Er spricht zu den frommen Männern: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ – Weiß Jesus denn nicht, was das Gesetz zum Ehebruch verlangt? Warum setzt er sein Ansehen als Rabbi aufs Spiel?

Und die zahllosen Kranken und Behinderten fallen mir ein, die zu Jesus gekommen sind, dass er sie gesund macht. Kein schöner Anblick oft! Die Gesichter entstellt vom Aussatz. Nicht selten ansteckend! Die Besessenen unberechenbar und gefährlich. Alle zusammen keine gute Gesellschaft! Aber Jesus weist sie nicht ab: „Sei rein!“, sagt er dem Äusätzigen. „Steh auf, hebe dein Bett auf und geh heim!“, so hört der Gelähmte. Und auch der Besessene erfährt Hilfe: Jesus treibt den bösen Geist aus und bringt den Mann wieder zurecht.

Und schon unter den Jüngern Jesu waren doch recht fragwürdige Menschen: Petrus, der den Mund so voll genommen und ihn am Ende doch verleugnet hat. Judas, der ihn verrät. Die Söhne des Zebedäus, Jakobus und Johannes, die sich nicht scheuen, ihren Herrn um Fensterplätze im Himmel zu bitten. Alle durften zu ihm kommen. Niemanden hat er abgewiesen. Einen jeden Menschen hat er angenommen, wer und wie er auch war: Sympathisch oder nicht. Rechtschaffen oder nicht. Angemessener Umgang für einen Rabbi oder nicht. Entscheidend war nur, dass die Menschen ihn brauchten, dass er sie tröstet und ihnen hilft, dass sie gesund und heil werden, dass sie zum Glauben an seinen himmlischen Vater finden, dass ihnen der Sinn ihres Lebens aufgeht…

Liebe Gemeinde, auch uns nimmt Jesus Christus an! Wer wir auch sind. Was wir bis heute auch an Schuld auf uns geladen haben. Wie klein und schwach unser Glaube auch sein mag. Er weist uns nicht ab. Er freut sich, wenn wir zu ihm kommen. Er hält uns unsere Fehler nicht vor, die uns Leid tun. Er vergibt uns und schenkt uns einen neuen Anfang.

„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat…“ Wir spüren jetzt, wie weit wir doch davon entfernt sind, andere Menschen so anzunehmen, wie er es getan hat und heute tut! Und wir fragen uns: Geht das denn überhaupt? Können wir das, wir schwache, fehlbare und doch auch eigennützige Nachfolger unseres Herrn? Wer kann so selbstlos sein – wie er?

Fragen wir die Mutter, warum sie ihren Sohn, der seit Jahren in Drogenkreisen verkehrt, nicht längst aufgegeben hat? Warum sie ihn immer wieder in seiner heruntergekommenen Wohnung besucht, freundlich mit ihm spricht, ihm immer wieder sagt, dass die Tür zu Hause für ihn offensteht? Nur weil er halt ihr Sohn ist? Weil sie sich schuldig fühlt, weil sie doch in der Erziehung ganz offensichtlich einiges falsch gemacht hat, was sie so gutmachen will?

Nein, sie würde zuerst von ihrer Hoffnung reden, dass sie glaubt, dass noch alles gut werden kann mit ihrem Sohn. Dass es wichtig ist, dass er weiß, wenn ich auch allen Menschen gleichgültig bin und niemand sonst nach mir fragt, ob es mir gut oder schlecht geht…, meiner Mutter bin ich wichtig. Sie liebt mich und gibt mich nicht auf.

Die Mutter würde gewiss auch das sagen: Es ist nicht leicht, immer wieder die Hoffnung festzuhalten. Manchmal meine ich schon, alles wäre vergeblich. Aber wenn ich mein Kind verloren gebe, dann ist es verloren. Mein Sohn wird eines Tages die Kraft finden, einen Entzug zu machen. Ich werde ihn bis dahin begleiten. Ich werde die Hoffnung nicht fahren lassen, so lange es auch dauert.

Fragen wir den Pfleger, der schon so viele Jahre einen schlecht bezahlten aber aufreibenden Dienst im Krankenhaus tut, warum er doch immer allen Patienten ein freundliches Gesicht zeigt? Den ewig nörglerischen genauso wie den geduldigen. Denen, die nie Danke sagen, genauso wie den dankbaren. Denen, die immer nach dem Stationsarzt verlangen, genauso wie denen, die mit seinem Rat und seiner Hilfe zufrieden sind. Weil er halt keinen anderen Job gefunden hat? Weil er damals nicht den Mut zum Wechsel hatte, als sie ihm die Stelle im Management des Krankenhauses angeboten haben?

Er würde davon sprechen, dass ihm die Arbeit als Pfleger Freude schenkt – so schwer sie auch ist und so sehr er sich auch über manche Patienten ärgert. Da könnte ihn nicht einmal ein höheres Gehalt locken, diese Arbeit aufzugeben. Und gerade die Patienten, die nie zufrieden sind und an allem etwas zu meckern haben, brauchen ihn ja besonders. Das spürt er. Mit seiner Freundlichkeit kann er ihnen helfen, dass sie ihre nörglerische und undankbare Art ablegen. Wie oft hat er das schon erlebt, dass ihm gerade diese zunächst unangenehmen Patienten am Ende des Aufenthalts im Krankenhaus lange die Hand drücken und sich mit Tränen in den Augen herzlich für die gute Pflege bedanken. Er ist ganz sicher: Wenn man die Menschen unvoreingenommen annimmt und ihnen nachsieht, wie sehr sie in ihr eigenes Wesen verstrickt sind, dann können sie sich davon lösen, sich verändern und entdecken, dass sie selbst auch freundlich sein können, selbst wenn die Zeit im Krankenhaus sie sehr belastet und auf eine harte Probe stellt.

Fragen wir die vielen anderen Menschen, die es Gott sei Dank gibt, die ihre Mitmenschen annehmen können, wie Christus sie und uns alle angenommen hat, warum sie das tun? Neben der Hoffnung, dass sich der Mensch, den wir unvoreingenommen annehmen, ändern kann und neben dem Hinweis, dass es einfach auch Freude macht, anderen – auch schwierigen Menschen – liebevoll und freundlich zu begegnen, würde sicher noch eine Antwort genannt werden: Dass es uns angemessen ist, es unserem Herrn darin nachzutun, denn wir tragen seinen Namen: Christen.

Diese Menschen würden uns auch davon berichten, dass sie sich bei ihrer Mühe um ihre Nächsten nie allein und verlassen gefühlt haben. Sicher ist es nicht leicht, sich um Menschen zu kümmern, die gar keine Hilfe von uns erwarten und uns gegenüber zunächst misstrauisch sind. Und es gibt oft Rückschläge, auch wenn es zuerst so gut ausgesehen hat. Aber es gibt eben auch die Kraft, die nicht aus uns selbst kommt, die täglich neu ist und die wir uns im Gebet immer wieder auffrischen lassen können. Und schließlich gibt es auch dieses unbeschreibliche, wunderbare Gefühl davon, dass richtig und sinnvoll ist, was wir für die Mitmenschen tun, wenn wir dabei in der Spur unseres Herrn und bei diesem Auftrag bleiben: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat…“

Wir wollen auch nie vergessen, dass, den Mitmenschen anzunehmen, wie es Jesus Christus tut, immer „…zu Gottes Lob“ geschieht, wie es die Jahreslosung am Ende sagt. Aber es zählt zu den Geheimnissen unseres Glaubens, dass wir bei allem, was wir zum Lobe Gottes tun, auch selbst nicht leer ausgehen. Der eine erfährt dabei eine tiefe Zufriedenheit. Ein anderer würde vielleicht vom Glück sprechen, das er dabei empfindet. Ein dritter bekommt – auch in einem schweren Leben – jeden Tag neuen Mut. Etwas davon erfährt allerdings nur, wer mit dieser Jahreslosung ernst macht und sie in der Kraft Gottes zu befolgen versucht: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“ – Ich wünsche Ihnen diese Kraft! AMEN

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Manfred Günther
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