von Beat Brugger, Co-Pastor, Viva Kirche CH
Ein Gott, der mich sieht
(frei nach Gen 16,1-16)
Ich will mich nicht beklagen, es geht mir gut. Es gibt weitaus üblere Arbeitgeber als Sarai und Abram. Und doch bin ich hier irgendwie fremd. Aus meiner ägyptischen Kultur und Familie herausgerissen, nachdem mich der Pharao zusammen mit einigem Vieh und anderen Sklaven als Geschenk an sie überreichte. Dies sozusagen als Wiedergutmachung für eine gröbere Peinlichkeit, die er sich hat zu Schulden kommen lassen. Sklavin zu sein – oder klingt „Leibdienerin“ etwas besser? – ist nicht ein so schlimmes Schicksal, wie einige jetzt vielleicht vermuten. Immerhin hat man ein Dach über dem Kopf und die Existenz ist mehr oder weniger gesichert. Das ist da wo ich herkomme nicht selbstverständlich. Und ja, Sarai ist freundlich und behandelt mich in der Regel gut. Und doch bin ich ein Mensch zweiter Klasse, jemand, der nicht frei entscheiden kann, was er tun und wo er hin gehen will. Fern von meiner Heimat, meiner Familie und meiner Kultur, diene ich nun diesen fremden Menschen und ziehe mit ihnen durchs Land.
Meine Herrin Sarai und ihr Mann Abram sind zwar frei und wohlhabend, doch auch ihr Glück ist nicht perfekt. Es fehlt ihnen an Nachkommen, die ihre Sippe weiterführen und ihre Geschichte weiterschreiben könnten. Besonders für Sarai ist das eine grosse Not und Schande. Sie fühlt sich irgendwie als Versagerin, dies obwohl niemand mit Bestimmtheit sagen kann, dass sie für die Unfruchtbarkeit des Paares verantwortlich ist. Schon vor Jahren hat Gott Abram eine zahlreiche Nachkommenschaft versprochen. Doch davon ist bis jetzt noch nichts zu sehen. Die beiden sind nicht mehr die Jüngsten, bei Sarai macht sich deshalb seit geraumer Zeit eine zunehmende Torschlusspanik breit. Sie beschliesst nun, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen – und dabei komme ich ins Spiel. Wo der Nachwuchs bei einer Herren-Familie ausbleibt, ist es aufgrund von einer gesellschaftlichen Regelung möglich, die Leibmagt – also mich – als „Nebenfrau“ einzusetzen, damit diese der Familie zu Nachkommen verhilft. Die Geburt muss in in einem solchen Fall auf dem Schoss der Herrin erfolgen und so gilt das Kind der Magd als eines der Herrin. Sarai unterbreitet Abram ihren Plan und der willigt ein. Für mich bedeutet das gesellschaftlicher Aufstieg. Ich bin nun nicht mehr einfach nur die „Leibmagt“ Sarais, sondern auch die „Nebenfrau“ von Abram. Und doch ist es irgendwie entwürdigend, wenn man einfach so ohne eigenes Mitspracherecht zur Nebenfrau bestimmt wird, mit allem was dazugehört; sozusagen instrumentalisiert, um den Makel einer ausbleibenden Nachkommenschaft zu beheben.
Nun gut, es ist, wie es ist. Bald schon weisen einige körperliche Symptome darauf hin, dass Sarais Plan aufgeht. Die regelmässige Übelkeit am Morgen, eine plötzliche Müdigkeit sowie die zunehmende Wölbung in der Körpermitte stellen unmissverständlich klar: ich bin schwanger. Ich hätte es zuvor nicht für möglich gehalten, doch dieser Umstand macht etwas mit mir. Ich werde Mutter, erlebe was wir Frauen instinktiv als unsere Urbestimmung und Identität begreifen. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl erfüllt mich. Plötzlich bin ich jemand, nehme einen Platz in einer Familie, einer Geschichte ein. Ich trage Leben in mir, trage Leben in diese Welt und gebe etwas von mir weiter. Schreibt Gott die Geschichte mit mir fort, die er mit Sarai nicht vollenden kann? Bin ich nun die Frau, durch die sich die Verheissung an Abram erfüllt? Meine Fantasie geht wohl grad etwas mit mir durch. Aber ich habe das Gefühl, mein zweitklassiges Dasein hinter mir lassen zu können und den Platz Sarais einzunehmen – zumindest im Herzen Abrams. Endlich bin ich auch mal wer! Ich tausche die Rolle der Statistin mit jener der Hauptdarstellerin ein. Mehr und mehr fällt es mir schwer, meine Herrin ernst zu nehmen, mich ihr zu unterordnen, ihr zu dienen. Nein, jetzt lass ich mir nicht mehr alles gefallen. Schliesslich bin ich ja nun Nebenfrau und nicht mehr nur Dienerin. Das darf sie jetzt ruhig ein wenig spüren.
Allerdings habe ich bei dieser meiner Rechnung die unumstösslichen Machtverhältnisse ausser Acht gelassen. Dass Sarai die Herrin ist und ich die Magd, lässt sie mich bald schon dermassen heftig spüren, dass meine in meinen Träumereien eben errichteten Luftschlösser mit lautem Getöse in sich zusammenfallen. Wähnte ich mich eben noch als Stammhalterin des von Gott erwählten, gesegneten Abram, gibt mir Sarai nun deutlich zu verstehen, dass ich Mensch zweiter Klasse bin. Was noch vor kurzem normal war, fühlt sich für mich nach den zwischenzeitlichen emotionalen Höhenflügen auf einmal unerträglich an. Hinzu kommt, dass Sarai die Enttäuschung über ihre Unfruchtbarkeit offensichtlich an mir auslässt. Sie fordert mehr denn je und die Freundlichkeiten, Ermutigungen und Bestätigungen früherer Tage bleiben gänzlich aus. Ich halte das nicht mehr aus. So kann ich nicht mehr sein. Ich sehe keinen Ausweg als allein die Flucht in die Wüste. Vielleicht komme ich auf diesem Weg ja heim nach Ägypten.
Der Weg ist beschwerlich. Im Sand mache ich gefühlt zwei Schritte vorwärts und einen zurück. Steine und kleinere Felsbrocken muss ich umrunden oder übersteigen. Bei diesen Anstrengungen macht sich der Umstand deutlich bemerkbar, dass ich in mir noch eine zweite Person mit Energie zu versorgen habe. Wie lange werde ich es ohne Wasserzufuhr aushalten? Es war ein ungestümer, unüberlegter Aufbruch. Das wird mir je mehr bewusst, je schwerer sich meine Schritte anfühlen. Die Sonne sticht erbarmungslos auf meinen Kopf. Der aufgeheizte Sand brennt auf der Haut und die Luft ist heiss wie Feuer. Erste Zweifel kommen auf, ob ich diese aus dem Affekt angetretene Flucht auch überlebe – ich und mein werdendes Kind. Ein „Zurück“ gibt es nicht mehr. Das Einzige, was noch weniger Wert hat als ein Sklave ist ein entflohener Sklave. Mit so jemandem darf man tun und lassen, was man will, kann ihn gar ohne Konsequenzen umbringen. Zudem gibt mir das der Stolz nicht zu. Lieber sterben als diesen „Gang nach Ganossa“ zurück zu Sarai. Endlich, da vorne, ist das nicht eine Wasserquelle? Gierig sauge ich das lebenspendende Nass in mich hinein. Doch wie weiter? Ich habe keine Ahnung! Mich meiner Erschöpfung ergebend, bette ich mich neben die Quelle und döse einfach mal vor mich hin.
„Hagar, Magd Sarais, woher kommst du und wohin gehst du?“ – Wer ist das und woher kennt der meinen Namen? Langsam wende ich meinen Kopf und erkenne erst mal nur schemenhaft doch allmählich etwas klarer die Gestalt, die mich eben so unverhofft persönlich angesprochen hat. Ich fühle mich noch gar nicht im Stande, auf Fragen mit derart philosophischer Tiefe Rede und Antwort zu stehen. Doch die Tatsache, dass ich mit meinem Namen persönlich angesprochen worden bin, schafft in mir sofort Vertrauen. Diese Anrede macht mich von der „Unberührbaren“ entlaufenen Sklavin, einem Menschen ohne Wert zu einem persönlichen Gegenüber. Da scheint mich jemand zu kennen, so wie ich bin. Meine wohl etwas dümmliche Antwort: „Vor Sarai, meiner Herrin, bin ich auf der Flucht“ wird der Bedeutsamkeit der Anrede des Unbekannten nicht wirklich gerecht. Doch viel geistreicheres kommt mir auf die Schnelle nicht in den Sinn. Die Gestalt – wie ich später herausfinde, ein Engel des Herrn – scheint sowieso alles bereits zu wissen, denn er fordert mich ohne weitere Umschweife dazu auf, zu Sarai zurückzukehren und mich „unter ihre Hand zu demütigen“, also ihr aus freien Stücken zu dienen. Aber damit ist der Engel noch nicht fertig, sondern fährt fort: „Ich werde dir mehr Nachkommen geben, als du zählen kannst. Du wirst einen Sohn bekommen. Nenne ihn Ismael, denn der HERR hat deine Hilferufe gehört. Dein Sohn wird ungezähmt sein wie ein wilder Esel! Er wird sich gegen alle stellen und alle werden gegen ihn sein. Ja, er wird mit allen seinen Brüdern im Streit leben.“
Ich hatte ja mit vielem gerechnet, aber mit dem nicht. Dass mich ein Engel Gottes – und damit Gott selber – mit Namen anspricht, weil er mich kennt und liebt, ich, die ich doch eine entlaufene Sklavin bin, ohne Ehre, ohne Rang und für so viele ohne Namen, eine ausrangierte anonyme Arbeitskraft. Aber damit nicht genug, jetzt verheisst der mir gar eine eigene Geschichte, ein eigenes Volk, so gross, dass man es nicht zählen kann. Das übersteigt mein Vorstellungsvermögen bei weitem. Aber eines ist mir soeben klar geworden: Wenn auch kein Mensch nach mir sieht oder nach mir fragt, Gott sieht mich, er kennt mich, er interessiert sich für mich und hat einen Plan mit mir. Für ihn gibt es nicht angesehenere oder weniger angesehene, keine Herren und Sklaven; für ihn sind alle Menschen – und damit auch ich – unschätzbar wertvoll. Ja, „du bist ein Gott, der mich sieht! (…) Habe ich nicht auch hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat?“ Erst jetzt, wo der Engel schon wieder weg ist, wird mir so ganz bewusst, dass ich in ihm Gott selbst begegnet bin: Dem Gott, der mich angesehen, mich wahrgenommen, mich ernstgenommen hat. Ich bin noch ganz baff und gleichzeitig unglaublich erfüllt und ermutigt.
Meine Kräfte sind – wohl ebenfalls ein Wunder dieser göttlichen Begegnung – wieder da und so schaffe ich es zu Sarai zurück. Ich bitte sie für meinen Aufstand um Entschuldigung und versichere ihr, dass ich meine Dienste als ihre Leibmagd nach bestem Wissen und Gewissen wahrnehmen will. Daraufhin nimmt mich das Paar wieder in ihre Gemeinschaft auf. Als spannungsfrei kann man die Beziehung mit Sarai nicht bezeichnen, aber sie ist für beide Seiten tragbar. Die Gewissheit, dass Gott mich sieht, mich kennt und einen Plan mit mir hat, lässt mich meine niedere Stellung als Sklavin ertragen. Ich weiss nun ja, dass ich viel mehr Wert bin.
Die Geburt ist, schmerzhaft und anstrengend, wie Geburten halt nun mal so sind, alles in allem geht sie aber gut über die Bühne. Abram nimmt meine Gottesbegegnung übrigens ernst und gibt dem Kind den Namen Ismael, wie der Engel es angehordnet hat. Überhaupt steht er mir zur Seite und unterstützt mich in allem. Nicht selbstverständlich für einen 86-jährigen Mann.
Persönliche Fragen aus diesem Text:
- In welcher Beziehung fühlst du dich in deiner Freiheit eingeschränkt, als Sklave von Umständen oder Menschen?
- In welchen Situationen hast du das Gefühl, du seist unbedeutend, werdest vergessen, nicht wahrgenommen, seist unsichtbar, werdest nicht mit der Würde behandelt, die dir eigentlich zusteht?
- Wo wirst oder wurdest du schon instrumentalisiert, für die Zwecke anderer „missbraucht“?
- Hast du dir auch schon auf plötzliche Chancen etwas eingebildet? Dir gedacht, aufgrund der veränderten Umstände seist du jetzt „endlich auch mal jemanden“? Hast dich dann über andere überhoben (bist überheblich geworden)?
- Aus welchen Umständen möchtest du am liebsten fliehen? Und dabei die Zusatzfrage: Welchen Anteil an der schwierigen Situation haben andere, welchen Anteil (und damit welche Verantwortung) hast du?
- Was bedeutet es dir, dass Gott dich persönlich kennt, dich sieht, ansieht, dich ernst nimmt, du für ihn Bedeutung hast?
- Welche Pläne hat Gott mir dir? Und was macht es mit dir und deiner Identität, dass Gott mit dir Geschichte schreiben will?
- Bei wem musst du dich vielleicht noch entschuldigen, weil du dich in deinem Übermut daneben benommen hast?
- Welchen Unterschied könnte das „von Gott gesehen sein“ für deinen Alltag, die vielleicht schwierigen Umständen, dein Sklavendasein, machen?
Beat Brugger, Co-Pastor, Viva Kirche CH